Aenne Goldschmidt-Michel (8. November 1920 - 24. Januar 2020), eine der bedeutendsten Tanzpädagoginnen, Choreographinnen und Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet des deutschen Volkstanzes ist in ihrem einhundertsten Lebensjahr in Basel verstorben.
In Stunden des Abschieds zehrt man von Erinnerungen und denkt an schöne Erlebnisse aber auch an schwierige Situationen.
Kniefederung? – Doppelte Kniefederung??
Diese Begriffe hatte ich zwar im „Handbuch des deutschen Volkstanzes“ gelesen, konnte mir aber nichts Genaues darunter vorstellen. Das sollte sich jedoch bald ändern:
Ich bekam einen Anruf von Hilda Fraas: „Walter Gutjahr hat mich zu einem Volkstanzseminar mit Aennne Goldschmidt eingeladen. Ich kann ja selbst nicht mehr tanzen und habe mit Walter besprochen, dass du mitkommst.“ „Aenne Goldschmidt? Die gibt´s noch?“ fragte ich. ... „Ja, ja die gibt es schon noch!“ sagte Aenne lachend, als ich ihr später diese Anekdote erzählte.
Das Seminar zum Thema „Schottisch, Rheinländer und Polka“ fand im Januar 1991 in Wolfshausen statt.
Am Freitagabend begann Aenne Goldschmidt mit einer theoretischen Einführung in das Thema. Auf die Vermittlung der historischen und inhaltlichen Hintergründe der einzelnen Tänze legte sie großen Wert. Nicht nur die Tanzleiterinnen und Tanzleiter sollten diese kennen, sondern auch die Tänzerinnen und Tänzer, um ihre Darbietungen noch authentischer und echter zu gestalten.
Am Samstag folgte der praktische Teil, der von Anneliese Hahn am Klavier begleitet wurde: Schottisch mit Kniefederungen! Keiner von uns hatte das je zuvor gemacht. Wir waren der Meinung, Schottisch sei ähnlich wie Polka, nur langsamer. Also wurde geübt; und zwar einzeln über die Diagonale! Erst der Grundschritt, dann der Rundtanz, anschließend die einzelnen Tanzformen. Als ausgebildete Tänzerin und Tanzpädagogin legte Frau Goldschmidt dabei den Focus auf die korrekte und stilsichere Ausführung der Tanzschritte; ebenso achtete sie auf die Körperhaltung und Ausstrahlung der Tänzerinnen und Tänzer.
Alle Tänze wurden am Sonntagvormittag wiederholt. Bis zur Polka kamen wir allerdings nicht. Daher wurde gleich das nächste Seminar im November 1991 geplant.
Einblick ins Archiv
Insgesamt hat Aenne Goldschmidt zwölf Volkstanzseminare für die Hessische Vereinigung für Tanz- und Trachtenpflege (HVT) gehalten. In diesen Lehrgängen wurden alle für Hessen relevanten Volkstanztypen unterrichtet.
Auf meinem T-Shirt sah Aenne Goldschmidt das Emblem der Hans-von-der-Au-Gruppe Erbach und erzählte mir, dass unter ihrer Regie 1956 beim „Fest des deutschen Volkstanzes“ die einzelnen Tänze der Gruppe gefilmt wurden. Sie stellte den Kontakt zum Tanzarchiv in Leipzig her und ich durfte den Film ausleihen und kopieren. Dadurch entstand auch der Kontakt zu Hilda Fraas, die Aenne noch einige Fragen zu Tanzaufzeichnungen von Hans von der Au beantworten konnte.
1992 besuchten Gerd Schwinn und ich Aenne in Berlin. Hier übereignete sie uns den Nachlass von Hans von der Au, der seitdem im Hans-von-der-Au-Archiv der HVT aufbewahrt wird.
Die Choreographien überdauern
Als 2001 das fünfzigjährige Jubiläum der HVT anstand, wurde in der „Tanzleitergilde“ über eine Mitwirkung an den Feierlichkeiten nachgedacht. Es sollte etwas besonderes sein, und da alle an den Goldschmidt-Seminaren teilnahmen, kam mir die Idee, Aennes legendäre „Hessische Suite“ einzustudieren. Mit den Worten: „Sie gehört nach Hessen; eigentliche habe ich sie für euch gemacht.“ stimmte Aenne zu, schickte mir die Noten und ich durfte wieder einen Film und ein Tonband aus dem Tanzarchiv in Leipzig ausleihen. Ich hatte vieles über diese Suite gehört und gelesen, als wir aber den Film sahen wurde uns klar, dass man diese Choreographie nur schwer mit einer überregionalen Gruppe einstudieren kann.
Später führte die Hans-von-der-Au-Gruppe Erbach die „Hessische Suite“ einige Male mit Erfolg auf.
Viele Choreographien von Aenne Goldschmidt werden auch heute noch von verschiedenen deutschen Tanzensembles aufgeführt, darunter der „Winzertanz“ und der „Ländliche Walzer“, um nur einige zu nennen.
Das Erbe weitergeben
Mit ihren Büchern und wissenschaftlichen Abhandlungen zum deutschen Volkstanz hinterlässt uns Aenne Goldschmidt ein reiches Erbe. Das „Handbuch des deutschen Volkstanzes“, das „Vokabular deutscher Volkstanzschritte“ sowie „Die Verwendbarkeit der nationalen Volkstanzüberlieferungen für unser neues Tanzschaffen“ sollte jede Tanzgruppe besitzen.
Uns Tanzleiterinnen und Tanzleitern sollte es eine Pflicht und eine Ehre sein, das von Aenne Goldschmidt erlernte Wissen und Können in ihrem Sinne weiter zu pflegen, zu entwickeln und an die Jugend weiterzugeben.
Wir sind Aenne Goldschmidt zu großem Dank verpflichtet und werden ihr ein ehrendes Gedenken bewahren.