Deutsche Gesellschaft für Volkstanz e.V.

Die neuen DGV-Tanzleiterinnen und Tanzleiter, die im vorigen Jahr ihre Ausbildung abgeschlossen haben, fertigten auch eine schriftliche Arbeit an. In dieser Ausgabe wollen wir die Arbeit von Claudia Schier aus Berlin unter dem Titel „So tanz(t)en wir! Ein kleines Stück Berliner Volkstanzgeschichte von 1945 bis heute (2011)“ abdrucken.

Claudia Schier hat mit ihrer Arbeit versucht, einen Überblick über die Volkstanzlandschaft in Berlin nach dem 2. Weltkrieg bis in die heutige Zeit, zu geben. Es ging darum die Volkstanzgeschichte in Ost- und Westberlin in den bewegten Jahrzehnten in Wort und Bild für die nächsten Generationen festzuhalten. Ein besonders interessanter Aspekt war die Betrachtung und der Vergleich der Entwicklung des Volkstanzes in der geteilten Stadt.

 

Hier die Gliederung:

  • Vorwort
  • Nachkriegsjahre
  • Die 50er Jahre
  • Die 60er Jahre
  • Die 70er Jahre
  • Die 80er Jahre
  • Die 90er Jahre bis heute
  • Der Volkstanzkreis Tempelhof
  • Der Volkstanzkreis Reinickendorf
  • Der Berliner Volkstanzkreis
  • Quellennachweis

In der Arbeit sind zahlreiche Originaldokumente enthalten, die wir hier nicht alle abdrucken können. Besonders authentisch ist der Inhalt durch Befragung vieler Zeitzeugen. Claudia Schier regt an, die Arbeit unbedingt fortzuschreiben. – d.Red.

Vorwort

Die folgende Arbeit ist ein Versuch, einen Überblick über die Volkstanzlandschaft in Berlin nach dem 2. Weltkrieg bis in die heutige Zeit (1945 bis 2011) zu schaffen. Das wird nicht ganz einfach, denn durch die Besatzung Deutschlands und Berlins durch die vier Siegermächte Frankreich, Großbritannien, USA und Sowjetunion zeichnete sich schon gleich nach dem Ende des Krieges am 8. Mai 1945 eine unterschiedliche gesellschaftspolitische Entwicklung ab. Während Frankreich und Großbritannien sich an die Weltmacht USA hielten und sich der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zuwendeten, vertrat die Sowjetunion den sozialistischen Grundgedanken.
In beiden Gesellschaftsordnungen wurde Volkstanz gepflegt und entwickelt. Es entstanden viele Gruppen.
Vor dem Krieg gab es aber auch schon viele Gruppen, die danach weitergeführt wurden. Oft wird zu diesem Thema: „Volkstanz in Ost und West“ sehr schwarz-weiß gesprochen. Dem ist aber nicht ausschließlich so.

Es gab durchaus auch „Grautöne“. Zu diesem Thema gibt es nicht allzu viel Büchermaterial und wenn, wird es immer sehr einseitig behandelt, auch das Internet ist ziemlich rar an Informationen darüber. Deshalb habe ich die wertvollsten Informationen in sehr interessanten Gesprächen mit Tänzern und Tänzerinnen aus den verschiedensten Volkstanzgruppen Berlins zusammengetragen. Es war für mich sehr schön, mitzuerleben, mit welcher Freude sie über ihre Erinnerungen aus ihrer Jugendzeit berichteten. Gerade die 50er Jahre wurden sehr intensiv erlebt, da es in dieser Zeit sehr viele Volkstanzaktivitäten gab. Man konnte jeden Tag in der Woche in eine andere Gruppe tanzen gehen und jedes Wochenende gab es mehrere Volkstanzveranstaltungen. Wenn ich am Übungsabend den einen oder anderen auf mein Thema ansprach und ihn bat mir von früher zu erzählen, wurden es meist sehr lange Gespräche. Schön war, wenn einer anfing von seiner Volkstanzgruppe von damals zu erzählen und andere bekamen dies mit. Da setzte man sich dazu, hörte interessiert zu oder stellte fest, dass man ja damals in der gleichen Gruppe war. Dann ging die Recherche los. „Mit wem hast Du denn damals getanzt?“, „In welchen Jahren warst Du denn da?“…und man bemerkte, dass man schon früher oft miteinander zu tun hatte und sich jetzt, älter geworden, nur nicht wiedererkannt hatte. Dann wurden die Gespräche recht lustig und in der nächsten Probe wurden dann alte Fotos mitgebracht und angeschaut. Viele hatten aus beruflichen Gründen oder weil sie eine Familie gegründet hatten mit dem Tanzen aufgehört. Oder manche Gruppen lösten sich auch in den 60er Jahren aus Mangel an Interessierten auf, sodass man sich eine neue Tanzgruppe suchen musste. Man lernte neue Tänzer kennen oder traf auch manche von damals wieder und manchmal bemerkte man eben erst jetzt, dass man sich eigentlich schon kannte.
Alle, mit denen ich gesprochen habe, zeigten großes Interesse an meinem gewählten Thema, weil es hier um sehr bewegte Jahrzehnte geht, die es unbedingt gilt in Wort und Bild für die nächsten Generationen festzuhalten. Oft hörte ich den Satz. „Wenn Du mit deiner Arbeit fertig bist, möchte ich sie unbedingt lesen.“

Ich habe so viele Informationen, wie möglich zusammengetragen. Es gab aber damals zeitweise sehr viele Tanzgruppen, so dass es mir natürlich nicht möglich war über alle zu schreiben, aber ich hoffe, dass es mir mit den zusammengetragenen Erinnerungen der Volkstänzer gelungen ist einen repräsentativen Querschnitt durch die letzten sechs Jahrzehnte Volkstanzgeschichte in Berlin zu geben. Über manche Gruppen konnte ich nicht sehr viele Informationen bekommen, über andere mehr. Von einigen Gruppen weiß ich nur, wann sie ungefähr bestanden und wer sie damals leitete, über andere Gruppen habe ich mehr Informationen von den entsprechenden Gesprächspartnern bekommen. Somit ergibt sich also, dass über einige Gruppen ausführlicher und über andere Gruppen weniger berichtet wird.

Nachkriegsjahre

1945 lag Deutschland in Schutt und Asche. Viele Menschen hatten ihr gesamtes Hab und Gut verloren, andere trauerten um ihre im Krieg gefallenen Angehörigen. Die gesamte Wirtschaft war am Boden. Nach und nach versuchte man zum normalen Leben zurückzukehren, was nur unter erschwerten Bedingungen möglich war. Die Trümmer mussten beseitigt werden, neuer Wohnraum geschaffen werden. Arbeitsplätze waren knapp, Lebensmittel gab es nur auf Zuteilung und nicht genug, die Dinge und Gewohnheiten des alltäglichen Lebens waren auf dem Tiefpunkt angelangt. Die Menschen wussten nicht, wie es weitergehen sollte.

Nachdem die schlimmste Nachkriegszeit überstanden war, suchten die Menschen wieder die Gemeinschaft. In allen Teilen Berlins und im Umland entstehen in Turnvereinen und Jugendorganisationen Volkstanzgruppen. Getanzt werden zu dieser Zeit in Berlin zum größten Teil Jugendtänze. Es wurde an die Arbeit vor 1933 angeknüpft, denn nur wenige Tanzgruppen konnten während des Naziregimes frei arbeiten, da die Nationalsozialisten die Volkstänzer vereinnahmt hatten. Deshalb wurden die Tänzer nach 1945 teilweise total abgelehnt und belächelt. Das gab sich aber bald wieder. Ältere Volkstänzer riefen auf, wieder regelmäßig miteinander zu tanzen.

Durch die Wandervogelbewegung, die Naturfreunde, die Falken oder aber auch durch andere Jugendorganisationen, wie zum Beispiel Jugendausschüsse der Bezirksverwaltungen, die spätere FDJ, und die Naturfreunde rief man die Jugend auf, sich kulturell zu betätigen und ihnen damit eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung und Ablenkung von den Nachwirkungen des Krieges zu bieten.
In den Jugendgruppen traf man sich regelmäßig. Es wurde gemeinsam gesungen, über Gott und die Welt geredet, kleine Theatergruppen und Volkstanzgruppen gegründet. Jede Gruppe hatte ihren Schwerpunkt, so lag dieser zum Beispiel in einem Bezirk beim Theaterspiel oder in einem anderen Bezirk beim Volkstanz. So zum Beispiel im Prenzlauer Berg im Bezirk 61. Hier wurde 1946 der „Großberliner Volkstanzkreis“ von Erich Krause gegründet. Erich Krause war schon vor dem Krieg ein sehr aktiver Volkstänzer, der schon damals Tanzgruppen leitete.
Nach dem Krieg gab er dann seine Volkstanzerfahrung an die Kinder und Jugendlichen weiter. Es wurde regelmäßig geprobt. Außerdem konnte man im Jugendheim auch anderen Interessen nachgehen, wie lesen, Schach spielen, Radio hören oder Tischtennis spielen. Die Woche im Bezirk 61 wurde wie folgt gestaltet:

  • jeden Montag 19 - 21 Uhr Volkstanz-Lehrgang
  • jeden Dienstag 19 - 21 Uhr Basteln
  • jeden Mittwoch 18 - 20 Uhr Laienspiel und Sprechchor
  • jeden Donnerstag 19 - 21 Uhr Heimabend für alle
  • jeden Freitag 19 - 21 Uhr abwechselnd Literatur- und Schulungsabend
  • jeden Sonnabend 17 Uhr Musik-Übungsabend

Eine Kindergruppe für die zehn bis 14-jährigen wurde auch aufgebaut. Der Heimabend sollte möglichst von allen Jugendlichen besucht werden, um das Band einer engen Kameradschaft zu schaffen. Die Jugendgruppen der Stadtbezirke wurden dann ab 1946 zu FDJ-Jugendgruppen.

Die Arbeit der Bezirksgruppen wurde in der Öffentlichkeit präsent gemacht. So fanden zum Beispiel Auftritte der Tanzgruppen auf der Straße statt.

Tanz auf der Straße etwa 1948

Tanz auf der Straße etwa 1948

Am 12. April 1947 fand das 1. Volkstanzfest des Großberliner Volkstanzkreises des Jugendausschusses 61, Prenzlauer Berg unter der Leitung von Erich Krause in Birkenwerder bei Berlin statt.
Fast jeder Berliner Sportverein hatte nach dem Krieg eine Volkstanzgruppe. Gegen Ende der 40er Jahre gab es in jedem Stadtbezirk eine oder mehrere Tanzgruppen. Diese wurden dann von dem jeweiligen Bezirksamt gefördert. Somit waren kostenlose Übungsräume und die Bezahlung der Volkstanzleiter und Musiker gesichert.

Gerade die Jugend hatte viel Spaß am Tanzen. Die meisten Tänzer und Tänzerinnen waren zwischen 18 und 20 Jahre alt. Die Jungen tanzten in kurzen Hosen und die Mädchen trugen Rock und Mieder. Die Tanzarbeit war damals noch sehr von der Gymnastik beeinflusst, man tanzte also mit hohen Sprüngen. Deshalb hatten die Volkstänzer damals ihren Ruf als „Hüpferlinge“ weg. Die Tanzleiter richteten ihr Tanzrepertoire nach den noch vorhandenen Materialbeständen. Um dem jugendlichen Übermut Genüge zu tun, standen oft und gerne die in den 1920er Jahren geschaffenen Jugendtänze auf dem Programm der abendlichen Übungsstunden. Beliebte Tänze waren damals Krüzkönig, Dölziger Mühle, Märkische Viertour, Wilde Hummel, Bruder Lustig, aber auch Volkstänze wie Scheeßeler Windmüller, Settquadrille und Jägerneuner – übrigens alles Tänze, die sich zum Teil heute noch größter Beliebtheit erfreuen, nur dass die Tänzer nun inzwischen schon oft 65 Jahre und älter sind. Die von Walter Bröscky in den 30er Jahren geschaffenen Gemeinschaftstänze sollten eine Verbindung zwischen Volkstanz und Gesellschaftstanz bilden. Sie wurden eher von den älteren Volkstänzern bevorzugt und bei festlichen Zusammenkünften getanzt. In den ersten Jahren des Wiederaufbaus wurden die Tanzabende nur mit Livemusik begleitet. Viele ältere Tanzleiter waren es gewohnt selbst Musik zu spielen. Die Noten und Instrumente konnten teils unter schwierigen Umständen wieder beschafft werden und so funktionierte das Tanzen recht gut nach lebendiger Musik.

In der sowjetischen Besatzungszone, also im Ostteil Berlins liefen die ersten sowjetischen Propagandafilme, die die antifaschistische Umerziehung unterstützen sollten. Eine große Bereicherung erhielt die „Kultur auf Trümmern“ durch die aus dem Exil zurückkehrenden Künstler der verschiedensten Kunstgattungen, die nun ihren Beitrag zum Aufbau des befreiten Deutschland leisten wollten. Unter den sowjetischen Kulturoffizieren befanden sich viele Künstler, die sich durch unmittelbare praktische Hilfe, wie zum Beispiel durch die Versorgung mit Lebensmittelpaketen, für die Künstler einsetzten. Der Wiederaufnahme und Entwicklung der künstlerischen Selbstbetätigung der Werktätigen galt eine fürsorgliche Beachtung.
Am 03.07.1945 wurde dann der „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ gegründet. Dieser zählte schon zwei Jahre nach seiner Gründung 93.000 Mitglieder.
Auf der 1. Zentralen Kulturtagung der KPD im Februar 1946 referierte Wilhelm Pieck (1949 - 1960 erster und einziger Präsident der DDR) zum Thema: Die Erneuerung der deutschen Kultur.
Er sagte: „Wir werden uns mit allen Kräften dafür einsetzen, dass die bisherige Fernhaltung der breiten Massen unseres Volkes von der kulturellen Betätigung und vom Genuss der durch das kulturschöpferische Wirken erzeugten Werte beseitigt wird.“

Mit der Losung „Die Kunst dem Volke“ wird schon hier die Grundrichtung der späteren SED-Kulturpolitik manifestiert. Hauptanliegen dieser Konferenz war die Frage: Was muss getan werden, um den Menschen in ihrer Freizeit ein Mehr an kultureller Bildung zu verschaffen?
Bei einem Gastspiel des sowjetischen Alexandrov-Ensembles der Roten Armee im Juli 1946 in Berlin hatten viele Zuschauer zum ersten Mal die Gelegenheit Volkstanzkunst in vollendeter künstlerischer Meisterschaft zu erleben. Aufgeführt wurden thematische Tanzgestaltungen mit folkloristischen Mitteln. Durch die zahlreichen Gastspiele sowjetischer Ensembles wurde die Gründung vieler Tanzgruppen angeregt. In den Betrieben entstanden Volkskunstkollektive.

Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) spielte eine große Rolle bei der Entstehung neuer Volkskunstgruppen. Er übernahm die finanzielle Unterstützung und kümmerte sich um die geistig-kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen. Durch die Verbesserung der Lebensbedingungen stieg die Zahl der neugegründeten Gruppen und Zirkel an. Somit wurde es nötig eine zentrale Stelle für deren politische und künstlerische Betreuung ins Leben zu rufen. Das war die Deutsche Volksbühne, die im Mai 1947 ihre Arbeit aufnahm.

Bedeutungsvoller Höhepunkt für die Laientänzer nach dem Krieg war die 1. Zentrale Leistungsschau der Volkskunstkollektive der sowjetischen Besatzungszone (Ost-Berlin) vom 1. bis 8. August 1947. Obwohl hinsichtlich der Arbeits- und Lebensbedingungen, sowie der Versorgung der Bevölkerung vieles im Argen lag, wurde diese Leistungsschau veranstaltet. Hier hatten die besten, aus Wettbewerben hervorgegangenen, Tanzgruppen die Möglichkeit zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch. Vordergründig sah es so aus, als ob die Gruppen an ihren künstlerischen Leistungen gemessen wurden, was sicher auch ein wichtiger Punkt war, aber für die Ausrichter dieser Veranstaltungen gab es auch den Aspekt der gesellschaftlichen Führung der Gruppen. Somit wurde also auch das Vermögen der Trägereinrichtungen gemessen, wie sie ihre Gruppen sowohl materiell, als auch ideologisch unterstützten.

Blaue Röcke, die Tanzkleidung der Haselhorster Falken im Jahr 1955

Blaue Röcke, die Tanzkleidung der Haselhorster Falken im Jahr 1955

Das Jahr 1948 war dann geprägt durch zahlreiche Gastspiele sowjetischer Gesangs- und Tanzensembles in der sowjetischen Besatzungszone. Diese hinterließen nicht nur beim Publikum großen Eindruck, sondern gaben auch den vielen Laientänzern unzählige Anregungen im Umgang mit dem Volkstanz und Grund zum Nacheifern. Aber um solche bewunderungswürdigen künstlerischen Leistungen zu erbringen bedarf es Unterstützung in finanzieller und materieller Art. Das bedeutete also, dass man die staatliche Einflussnahme in Kauf nahm. Somit wurden kulturelle Höhepunkte, wie zum Beispiel zentrale Kulturgruppenwettbewerbe, Volkskunsttage und zentrale Leistungsschauen vom Staat verordnet. Während der Volkskunsttage in Berlin 1948 schlossen sich die dort versammelten Gruppen zum Bund der Volksbühnen zusammen. Man wollte damit die Einheit der Volkskunst im Osten wahren und der westlichen Kultur geistige Überlegenheit beweisen.
Im Januar 1949 wurde die „Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen (zum Beispiel FDGB, FDJ und andere) verabschiedet.

Damit sollte nun die Neuauflage bürgerlicher Volkskunstvereine und rein privates Engagement unterbunden werden. Für die aktiven Volkskünstler war das ganze politische und auch diktatorische Ausmaß anfänglich nicht absehbar. Für sie war wichtig, ihr Hobby unentgeltlich ausüben zu können, teilweise auch unter fachkundiger Anleitung.
Im Mai 1949 wurde, als Ergebnis der 1. Parteikonferenz der SED im Januar 1949, die Zentralstelle für Volkskunst beim Bund deutscher Volksbühnen gegründet, der Grundstein für das ab 1952 tätige Zentralhaus in Leipzig.

Im Westteil der Stadt (englische, französische und amerikanische Besatzungszone) sah man die ganze Sache nicht so politisch. Die Jugend sollte Spaß am Tanzen und der Gemeinschaft haben und neue Lebensfreude nach den harten Zeiten des Krieges finden. Das traditionelle Volkstanzerbe sollte gepflegt und erhalten werden. Jeder Jugend- und Sportverein hatte seine Tanzgruppe.
Ich unterhielt mich mit Gisela Baudach. Sie erzählte, dass sie damals in Haselhorst (Bezirk Spandau) wohnte. Sie war damals (1949) 13 Jahre alt und wollte unbedingt in eine Tanzgruppe gehen. Die Auswahl war groß. Sie konnte wählen, zwischen den Tanzgruppen von der Kirche, den Pfadfindern, den Naturfreunden oder auch den Falken, der Jugendorganisation der SPD. Sie entschied sich für die Falken. Die Tanzleiterin war eine junge Frau, die vor dem Krieg schon in einer Volkstanzgruppe getanzt hatte. Sie gab nun ihre Erfahrungen an die tanzende Jugend weiter. Getanzt wurde im Jugendheim Haselhorst.

Bei den Falken gab es Kinder-, Jugend- und Erwachsenengruppen. Man teilte sie ein in die Nestfalken, das waren die kleineren Kinder, die Jungfalken das waren Kinder bis zwölf Jahre, die Wanderfalken für die älteren Kinder ab ca. 13 Jahre und die Sturmfalken für die jungen Erwachsenen.
Gisela erinnerte sich an Tänze, die sie in der Gruppe tanzte. Dazu gehörten Tänze, wie zum Beispiel „Gah von mi, ga von mi, i mag di net sehn“, „Bin die kleine Nimburgerin“, „Du und ich wir beide, so promenieren wir“, „Es geht nichts über die Gemütlichkeit“, „Wenn hier ein Pott mit Bohnen steht“, „Hier ist grün und dort ist grün wohl unter meinen Füßen“, „Ei ja so singen wir, ei ja so singen wir“.

Mitgliedskarte von Volkhard Jähnert vom Volkstanzkreis Hohen Neuendorf

Mitgliedskarte von Volkhard Jähnert vom Volkstanzkreis Hohen Neuendorf

Auch Tänze wie Stoppgalopp, Klapptanz, Spinnradl, Schaumburger oder Menuettwalzer wurden getanzt. Als Tanzkleidung trugen die Mädchen blaue Röcke und weiße Blusen.
Im Jahre 1957 löste sich der Kreis auf.
In Hohen-Neuendorf bei Berlin baute Eberhard Jähnert 1947 wieder eine Volkstanzgruppe auf. Sie hatte schon von 1925 bis zum Krieg als Untergruppe des dort ansässigen Turnvereines bestanden. Nachdem die erste schlimme Nachkriegszeit überwunden war, suchten die Menschen wieder die Gemeinschaft. Somit wurde der kleine Tanzkreis immer größer und 1949 wurde dann mit einem Anfängerkreis eine zweite Gruppe aufgebaut. Dabei wurde Eberhard Jähnert von seinem damals sechzehnjährigen Sohn Volkhard unterstützt, der dabei schon die ersten Erfahrungen für seine spätere Tanzarbeit sammelte.
Außerdem leitete Eberhard Jähnert noch die BVG-Tanzgruppe in Berlin-Weißensee. Die Tänzer und Tänzerinnen hatten eine eigene Tanztracht. Um welche es sich dabei handelte, weiß ich leider nicht.

Am 12. November 1949 kam es zur Gründung der Gesamtberliner Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Volkstanzgruppen. In Berlin und im Umland existierten bereits über 30 Volkstanzgruppen mit insgesamt 1.500 Tänzern. Deshalb sah man es für notwendig an, sich regelmäßig zu treffen und Anregungen zur praktischen Arbeit auszutauschen und eine einheitliche Linie im Volkstanz in Berlin zu finden. In der Arbeitsgemeinschaft trafen sich acht Vertreter aus dem Westen und neun aus dem Osten Berlins. Zu den Teilnehmern der ersten Zusammenkunft gehörten unter anderem Sepp Böhmert, Arthur Bolle, Eberhard und Volkhard Jähnert, Erich Krause, Alfred Kummer, Herbert Oetke und Fredi Zip. Es entstand eine Arbeitsgemeinschaft, die sich einmal im Monat jeweils abwechselnd in Ost- und Westberlin traf. Die jüngeren Tanzleiter erhielten hier Arbeitsmaterial und Anregungen von den erfahrenen älteren Leitern.
Am 11. Oktober 1949 traf sich Herbert Kluge mit einigen Freunden, um den Volkstanzkreis Tempelhof zu gründen. Deutsche Tänze sollten gepflegt und verbreitet werden und man wollte gemeinsam singen und wandern. Leider fand sich lange kein geeigneter Raum, das Bezirksamt Tempelhof half bei der Suche, so dass sich die Gruppe im Herbst 1950 gründete. Die Tanzgruppe existiert heute noch. Dazu später mehr.

Im Mai und Oktober 1949 wurden die beiden deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gegründet.

Die 50er Jahre

Die 50er Jahre waren wohl der Höhepunkt in der Volkstanzarbeit in Berlin. Überall gab es Tanzgruppen und wer besonders tanzwütig war, tanzte bis zu sechs Mal in der Woche in verschiedenen Gruppen. So tanzte man zum Beispiel in der Volkshochschule Neukölln unter der Leitung von Charlotte und Walter Huhn, Steglitzer Tanzkreis von den Naturfreunden, später Beschwingter Kreis Steglitz unter Leitung von Irmchen Lemm und heute von Horst Teschendorf, Volkstanzkreis der Naturfreunde in Wedding unter Leitung von Arthur Bolle, Volkstanzkreis Reinickendorf unter Leitung Volkhard Jähnert, Volkstanzkreis Hohen Neuendorf mit Eberhard Jähnert, Groß-Berliner Volkstanzkreis, Leitung Erich Krause, Volkstanzkreis Tempelhof, Leitung Herbert Kluge (Leitung änderte sich im Laufe der Jahre öfter, dazu später mehr), Naturfreundekreis Neukölln, Leitung Werner Kumkar (Mohrchen), ab 1961 Anni Herrmann und in den vielen Betriebstanzgruppen. Dies ist nur ein kleiner genannter Teil von Volkstanzgruppen. Es gab weitaus mehr, aber hier alle Gruppen aufzuführen wäre ein eigenes Buch wert.

Fast jeden Monat gab es in einem Stadtteil von Berlin ein Volkstanzfest, oder auch mehrere. Manchmal überschnitten sich sogar die Termine und man hatte die Qual der Wahl, sich für eines zu entscheiden. Die wohl bekanntesten Tanzfeste waren die in Britz, unter der Leitung von Charlotte und Walter Huhn und die Tanzfeste des Groß-Berliner Volkstanzkreises in Weißensee, später auch in anderen Bezirken, wie Treptow und Prenzlauer Berg bei Erich Krause. Die Tanzfeste des Berliner Volkstanzkreises (das „Groß“ ließ man irgendwann weg) werden heute noch zweimal jährlich veranstaltet. Beide Feste fanden turnusmäßig statt und zählten jeweils bis zu 200 bis 400 Tänzern.

In Neukölln wechselten sich die Volkstanzgruppen der drei Jugendheime Oderstraße, Lessinghöhe und Hannemannstraße monatlich mit der Ausrichtung der Tanzfeste in der Fritz-Karsen-Schule in der Onkel-Bräsig-Straße ab. Diese Tanzfeste gab es auch viele Jahre.

Auftritt im Bürgerpark Pankow am 19. Juli 1953

Auftritt im Bürgerpark Pankow am 19. Juli 1953

Im Jugendheim Mitte am Askanierring in Spandau fanden ebenfalls regelmäßig Tanzfeste statt. In den Köpfen der vielen Volkstänzer existierte die politische Trennung Deutschlands nicht wirklich, man tanzte in Ost- und in Westberlin. Für die Tanzleiter sah es da schon etwas anders aus. Aufgrund der politisch zugespitzten Lage in Berlin wurde es nicht gern gesehen, wenn sie an öffentlichen Veranstaltungen im jeweils anderen Teil der Stadt teilnahmen.

Hier ein Bild vom Tanzfest 1953 im EAW Treptow

Hier ein Bild vom Tanzfest 1953 im EAW Treptow

Leider erzwang diese Situation bald auch eine Trennung der Arbeitsgemeinschaft der Tanzleiter. So gab es also nach 1952 eine Arbeitsgemeinschaft in Ost- und in Westberlin. 1. Vorsitzender im Westteil der Stadt wurde Walter Huhn, später war es Arthur Bolle. Eberhard Jähnert war der 2. Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Tanzleiter in Ostberlin und Volkhard Jähnert war der 2. Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft in Westberlin. Da Vater und Sohn sich regelmäßig privat trafen und sich über die Tanzentwicklung austauschten, ging die Volkstanzarbeit in beiden Teilen der Stadt fast gleiche Wege. Dies endete leider 1961 mit dem Mauerbau.


Teil 2 weiterlesen…

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