Deutsche Gesellschaft für Volkstanz e.V.

Die neu ausgebildeten DGV-Tanzleiterinnen und Tanzleiter fertigten auch eine schriftliche Arbeit an. In dieser Ausgabe wollen wir die Arbeit von Claudia Schier aus Berlin unter dem Titel „So tanz(t)en wir! Ein kleines Stück Berliner Volkstanzgeschichte von 1945 bis heute (2011)“ fortsetzen. Den Teil I finden Sie im Heft 2/2012, Seite 17 ff.

Claudia Schier hat mit ihrer Arbeit versucht, einen Überblick über die Volkstanzlandschaft in Berlin nach dem 2. Weltkrieg bis in die heutige Zeit, zu geben. Es ging darum, die Volkstanzgeschichte in Ost- und Westberlin in den bewegten Jahrzehnten in Wort und Bild für die nächsten Generationen festzuhalten. Ein besonders interessanter Aspekt war die Betrachtung und der Vergleich der Entwicklung des Volkstanzes in der geteilten Stadt.

In der Arbeit sind zahlreiche Originaldokumente enthalten, die wir hier nicht alle abdrucken können. Besonders authentisch ist der Inhalt durch Befragung vieler Zeitzeugen. Claudia Schier regt an, die Arbeit unbedingt fortzuschreiben. – d.Red.

Blick in den Ostteil Berlins

Im Ostteil der Stadt wurden schon zu Anfang der 50er Jahre zwei unterschiedliche Auffassungen von der Pflege und Entwicklung des deutschen Volkstanzes sichtbar. Waren da auf der einen Seite die Betriebstanzgruppen, deren Tanzleiter an den originalen überlieferten Tänzen und den Jugendtänzen festhielten, gab es da auf der anderen Seite die Tanzgruppen, die den Volkskunstkollektiven der Massenorganisationen angehörten, die sich verpflichtet fühlten, die Vorgaben der sozialistischen Kulturarbeit besonders ernst zu nehmen. Eigentlich hatten alle Laientanzgruppen im Ostteil der Stadt die Aufgabe, das Leben der Werktätigen in ihren Betrieben und der Gesellschaft der DDR in ihren Choreographien widerzuspiegeln.

Der Beginn der 50er Jahre war für die Entwicklung des Laienbühnentanzes in der DDR von großer Bedeutung. Durch den Anschluss der Gruppen an die Betriebe oder gesellschaftlich-politischen Organisationen wurde die Laienkunst für den Staat kontrollierbarer. Anfang der 50er Jahre überschlugen sich die kulturellen Ereignisse und Volkskunst wurde unter Wahrung und Pflege der traditionellen Überlieferungen ein fester Bestandteil im Kulturleben des Arbeiter- und Bauernstaates DDR. Im Mai 1950 gab es das Deutschlandtreffen der Jugend in Berlin. Viele Tänzer beteiligten sich an dem im Rahmen des Deutschlandtreffens stattfindenden Wettbewerb der Landeskulturgruppen der FDJ unter dem Motto: „Bereit zur Arbeit und Verteidigung“ und kämpften um den „Preis des Weltbundes der demokratischen Jugend“.

Aufgeführt wurden Bühnenprogramme mit Namen, wie „Tanzlied vom Bauer, Bergmann und Arbeiter“, „Schwedische Volkstänze“ oder aber auch ein Schluss-chor mit dem Namen „Ans Werk“. Die Aufführungen hatten teils sehr politische und sozialistische Inhalte, aber es wurden auch überlieferte Tänze gezeigt, entweder im Original oder als Suiten zusammengestellt, um sie bühnentauglicher und interessanter fürs Publikum darzustellen. Die Vorführungen der Tanzensembles aus den sozialistische „Bruderländern“ waren immer sehr überwältigend. Besonderen Eindruck hinterließ das „Moissejew-Ensemble“ aus der ehemaligen UdSSR. Das künstlerische Können der Tänzer mag wohl auch mit ausschlaggebend gewesen sein, dass sich am 15. Juli 1950 das erste staatlich geleitete Tanz- und Gesangsensemble der DDR, das Erich-Weinert-Ensemble der kasernierten Volkspolizei (später der Nationalen Volksarmee) gründete.
Im August 1950 beschloss der FDGB ein Arbeitsprogramm zur Entfaltung der kulturellen Massenarbeit.

Für die Laientänzer hieß das:

  • mehr qualitative Anleitung der Gruppen durch Unterstützung durch Berufskünstler
  • Durchführung von regelmäßigen Schulungen
  • die besten Gruppen sollen zu Mustergruppen entwickelt werden

Im September 1950 tagte die Zentralleitung der Deutschen Volksbühne (DBV) in Berlin. Festgelegt wurde hier Folgendes:

  • Förderung des Laienschaffens in 30 ausgewählten Schwerpunktbetrieben
  • Entwicklung der Volksmusik und einer fortschrittlichen Tanzkultur
  • Herausgabe von Repertoirematerialien für Tanzgruppen
  • Umwandlung des dramatischen Balletts der DBV unter der Leitung von Jean Weidt in ein Tanzensemble zur Unterstützung der Volkstanzgruppen

Im Mai 1951 treffen sich viele Tänzer in Vorbereitung auf die III. Weltfestspiele im August zum Kulturwettbewerb in Berlin.

Im August 1951 finden in Berlin die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten statt. Jugendliche aus 104 Ländern waren zu Besuch und hinterließen mit ihren Nationalprogrammen bei den Deutschen bleibende Eindrücke. Die DDR präsentierte sich mit einem Vereinigten Tanz-ensemble, dass von Aenne Goldschmidt trainiert wurde. Es belegte im internationalen Wettbewerb den 3. Platz. Es wurden neue Volkstanzschöpfungen, wie „Das Lied vom glücklichen jungen Kapitän“ oder „Zimmermannstanz“ gezeigt.

Hier ein Ausschnitt aus der damaligen Nationalzeitung:
„Besonders erfreulich hat sich auch die Entwicklung des Volkstanzes vollzogen. Diese erneuerten Volkstänze sind eine Zierde des Programms. Sie lösten die lebhafteste Begeisterung aus. Aenne Goldschmidt ist es gelungen, verschollene Überlieferungen wieder lebendig werden zu lassen.“

Das Jahr 1951 wurde in der Erinnerung zu dem Tanzjahr. Es verschaffte der Laienkunstbewegung einen enormen Aufschwung durch Wettbewerbe der Volkskunst, die als Erfahrungsaustausch, Leistungsvergleich und zu selbstkritischer Überprüfung dann in den Jahren 1952/53 und 1954 veranstaltet wurden.
Am 1. Januar 1952 gründete sich das staatliche Volkskunstensemble (später Tanzensemble der DDR) unter der Leitung von Aenne Goldschmidt.
Am 25. Januar 1952 wurde das Zentralhaus für Laienkunst in Leipzig eröffnet. Es gab die kulturpolitischen und fachlich-methodischen Richtlinien und Aufgaben, Erkenntnisse und Orientierungen vor, die dann in den Bezirks- und Kreiskabinetten für Kulturarbeit umgesetzt wurden. Als unentbehrliches Hilfsmittel erwies sich die Herausgabe der Zeitschrift „Volkskunst“, die im Mai 1952 das erste Mal erschien. Das Zentralhaus war ein Zentrum für alle Probleme, Feste, Konferenzen und Kunstdiskussionen, die sich mit dem Thema Tanz befassten. Erich Janietz war der erste Sektorenleiter für Tanz im Zentralhaus für Laienkunst.

Die Mitarbeiter des Zentralhauses hatten schon Ostern 1952 ihre erste große Aufgabe zu bewältigen, denn sie organisierten die II. Deutsche Fachtagung für Volks- und Laienkunst.
Im Juli 1952 führten sie die 1. Deutschen Festspiele der Volkskunst durch. Es nahmen 5.506 Gruppen teil, darunter sehr viele Laientanzkollektive.
Diese Festspiele wurden zu einem kulturpolitischen Massenereignis. Die Staatsoberhäupter der DDR stifteten als Würdigung der Kunst und der Künstler aus dem werktätigen Volke Siegerpreise, die verliehen wurden.

Die Laientanzgruppe des Akkumulatorenfabrik Berlin-Oberschöneweide überraschte die Gäste mit dem zeitgenössischen Tanzbild „Die Trümmerfrau“. Hier wurde der Gedanke des Aufbaus der Hauptstadt Berlin tänzerisch zum Ausdruck gebracht. Das Zentralhaus der Jungen Pioniere Berlin bot ein Programm zum Erleben der Kinder in der jungen Deutschen Demokratischen Republik. Die Tanzgruppe der Humboldt-Universität Berlin riss das Publikum mit einem großen Folkloreprogramm zu Begeisterungsstürmen hin. Die Pressemitteilungen zu den Festspielen lasen sich alle durchweg positiv.

Unter den Augen der Fachleute fielen die Bewertungen der in den Festspielen gezeigten Tanzprogramme etwas anders aus.
So schrieb Aenne Goldschmidt in der Zeitung „Volkskunst“ 3,4 1952 in ihrem Beitrag „Ein neues herrliches Ziel vor Augen“:
„Das lieblose Heruntertanzen von Volkstanzformen ohne innere Beziehung zum Tanz und zu den Mittanzenden ist bis auf wenige Ausnahmen verschwunden. Um wie vieles sind die Tänze lebendiger geworden… Die Gruppen vermochten, Lebensfreude auszudrücken und auf die Zuschauer zu übertragen…

Was aber hat fast allen Tanzgruppen gefehlt? Mir scheint, dass es die eigene schöpferische Initiative ist.
Dieser Mangel lässt sich sowohl bei der Auswahl als auch bei der Gestaltung der Tänze erkennen. Die Laientanzgruppen haben offensichtlich zu wenig Mut zum Neuen, noch nicht Erprobten… Auf besonders große Schwierigkeiten scheinen die Tanzgruppen bei der Bearbeitung und Weiterentwicklung der Volkstänze zu stoßen… Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden, dass die Bearbeitung und Weiterentwicklung eines Volkstanzes niemals im Variieren der Formen bestehen darf, sondern einzig und allein im Herauskristallisieren, im Verstärken und Unterstützen des Inhalts und des Charakter des Tanzes.“

Die Ansprüche an die Tanzgruppenleiter wurden immer höher. Grund dafür war die wachsende gesellschaftliche Rolle der Volkskunstgruppen. Deshalb startete das Zentralhaus für Laienkunst im Dezember 1952 seinen ersten zentralen Lehrgang für Leiter von Bühnentanzgruppen in Bad Schandau. Die ersten Lehrer wurden Fachleute, wie Rosemarie Lettow-Schulz, Brigitte Ret, Erich Janietz, Paul Nedo oder Dieter Heinze. Im Sommer des Folgejahres fand schon der zweite zentrale Lehrgang statt. Schwerpunkte dieser Veranstaltung waren:

  • Behandlung der obligatorischen kulturpolitischen Grundsatzthemen
  • tanzmethodische und praktische Aneignung und Vermittlung von Tänzen

In der ganzen DDR bildete man nun immer mehr Tanzleiter aus, um die Qualität in den vielen bestehenden Betriebs-tanzgruppen auf höchstes Niveau zu bringen. Damals gingen Mitarbeiter des Hauses für Kulturarbeit in die bestehenden Gruppen und suchten nach talentierten Tänzern, die für die Ausbildung zum Tanzleiter geeignet waren. Auf die gleiche Art und Weise wählte man auch die Mitglieder für die staatlichen Tanzensembles aus, die dann zu Berufstänzern ausgebildet wurden.

Ausweis von Horst Feurich als Beleg der Ausbildung zum Tanzleiter

Ausweis von Horst Feurich als Beleg der Ausbildung zum Tanzleiter

Mein Vater, Horst Feurich, tanzte damals in der Tanzgruppe der Volksbühne bei Alfred (Atze) Kummer.
1953 wurde er dann auf die oben genannte Weise zur Ausbildung an der Fachschule für künstlerischen Tanz in Berlin vorgeschlagen, um sich zum Tanzleiter ausbilden zu lassen. Die Ausbildung dauerte 2 Jahre. Der Unterricht fand einmal wöchentlich am Abend statt.
Inhalte der Ausbildung zum Tanzleiter waren:

  • tänzerische Gymnastik
  • klassische Exercise
  • Schritt- und Sprungtechnik
  • Theorie (Tanzgeschichte, lesen von Tanzbeschreibungen, Unterrichtsmethoden, Schritte und Fassungen…)
  • Choreographie
  • Erlernen von Volkstänzen aus verschiedenen Regionen und Erklärung ihrer Spezifika

Offizielles Studienmaterial für die künstlerischen Lehranstalten der Deutschen Demokratischen Republik war das Buch „Aus der Entwicklung des deutschen Volkstanzes“ von Herbert Oetke. Herausgegeben vom Ministerium für Kultur, Hauptabteilung künstlerische Lehranstalten. Dieses stellt einen Auszug aus dem von Herbert Oetke erstellten „Handbuch des deutschen Volkstanzes“ dar.

Zur Abschlussprüfung musste man einen vorgegebenen Tanz, der aus einer Auswahlliste verschiedener Tänze herausgesucht wurde, erklären und einstudieren. Eine mündliche Prüfung zur Theorie folgte.

Nach Abschluss dieser Ausbildung durfte man dann eigene Gruppen leiten.
Je nach Ausbildung und Qualität der Gruppenleitung wurde man dann eingestuft und dementsprechend für den Probenabend bezahlt.
Dafür gab es eine festgelegte Liste:

  • Stufe 1: pro Unterrichtsstunde a 45 Minuten 5,00 Mark
  • Stufe 2: pro Unterrichtsstunde a 45 Minuten 7,50 Mark
  • Stufe 3: pro Unterrichtsstunde a 45 Minuten 10,00 Mark
  • Stufe 4: pro Unterrichtsstunde a 45 Minuten 12,50 Mark
  • Stufe 5 war die Sonderklasse für Ballettmeister und Berufstänzer: Da gab es pro Unterrichtsstunde a 45 Minuten: 15,00 Mark

Viele Tanzleiter hatten mehrere Gruppen in der Woche zu betreuen, da lohnte sich der Zugewinn zum monatlichen Gehalt schon. Alle ausgebildeten Tanzleiter wurden nach der Ausbildung regelmäßig zu weiteren Lehrgängen geschickt, um die Tanzqualität zu erhöhen und ständig auf dem neuesten Stand zu sein.

Anhand dieser Förderungen und Unterstützungen wird deutlich, wie wichtig der DDR, neben den politischen Hintergründen, aber auch der Erhalt der Volkskunst und des Volkstanzes als Brauchtum und Kulturgut war.

Das könnte doch für unsere heutigen Kulturbeauftragten vielleicht eine kleine Orientierungshilfe sein, oder?
Mein Vater übernahm nach der Ausbildung mehrere Tanzgruppen. Die Leiter wechselten manchmal, weil sie zumeist sehr jung waren und aus beruflichen Gründen oder wegen Familiengründung die Arbeit in den Tanzgruppen nicht weiterführen konnten.

Meine Mutter, Edith Feurich, arbeitete damals in der Deutschen Notenbank. 1952 gründeten die Jugendlichen des Betriebs eine Volkstanzgruppe. Die Gruppe hatte zunächst keinen Leiter. Man holte sich Unterstützung von aktiven Volkstänzern aus anderen Gruppen. So bekam die Gruppe tänzerische und musikalische Hilfe von Karl-Heinz Rezany und Jörg und Ingelore Falk aus der Tanzgruppe der Volksbühne Berlin. Die Leitung der Gruppe durch eine ausgebildete Tänzerin für Ausdrucks- und Bühnentanz wurde von der Gruppe abgelehnt. 1957 übernahm dann mein Vater die Gruppe. Zum Repertoire der Tanzgruppe gehörten: Kleiner Ländler, Spinnradl, Stoppgalopp, Schwedisch-Schottisch, Schwedisch-Quadrille, Siebenschritt, Krüz König, Freidige, Tamseler Dreigespann, Windmüller und Wolgaster.

Varsovienne und eine Niedersächsische Suite wurden als Bühnenbearbeitungen von meinem Vater entwickelt und aufgeführt. Musikalisch begleitete Ute Kremke (Tochter von Willy Kremke - Leiter des Berliner Volkstanzorchesters) die Übungsabende und Auftritte auf dem Akkordeon. Ein weiterer Musiker war Klaus Bach. Er spielte Akkordeon und Klavier ging aber später zu Willy Hinzert in die Gruppe. Bei Auftritten trugen die Mädchen rote und schwarze Röcke, schwarze Mieder und rote und schwarze Tücher. Die Gruppe bestand aus ca. 12 Mitgliedern. Die Gruppe trat auf bei Freilicht-Veranstaltungen, Betriebsveranstaltungen, zum 1. Mai, auf Berliner Volkstanzfesten im gesamten Berlin und wirkte mit bei Erntefesten im Oderbruch. 1955 nahmen die Tänzer am Volkstanzfest in Rudolstadt teil.

Die Tanzgruppe der Deutschen Notenbank bei einem Auftritt im Jahr 1958 mit dem Krüz König

Die Tanzgruppe der Deutschen Notenbank bei einem Auftritt im Jahr 1958 mit dem Krüz König

Leider löste sich die Tanzgruppe der Deutschen Notenbank 1959 durch berufliche und familiäre Veränderungen der Mitglieder auf.
Von 1960-1964 leitete mein Vater die Tanzgruppe der Kalk- und Zementwerke in Rüdersdorf und von 1959-1967 die Tanzgruppe des Ensembles des Berliner Glühlampenwerkes. Das Repertoire war immer ähnlich. Es wurden die überlieferten Tänze und Jugendtänze getanzt und zu Auftritten für die Bühne bearbeitete Volkstanzsuiten. Wünschenswert von „oberster Stelle“ war, dass jede Tanzgruppe eine Bühnenbearbeitung zu einem politischen Thema im Repertoire hat, welche mit folkloristischen Elementen gestaltet sein sollte.

Viele Tänzer wollten das nicht. Sie tanzten lieber die richtigen Volkstänze. Viele Gruppen blieben deshalb auch bei ihrem traditionellen Volkstanzprogramm. Es gab aber eben auch viele Gruppen, die sich an diese Vorgaben hielten. Das machte im Prinzip jeder so, wie er wollte, oder wie der jeweilige Betrieb es vorschrieb.

Die Tanzkleidung bestand meistens bei den Mädchen aus Miederkleidern mit Schürze, Tuch und weißer Bluse und die Jungen trugen schwarze Hosen, weiße Hemden und bunte Westen. Einige Tanz-ensembles hatten Originaltrachten aus den verschiedenen Regionen Deutschlands.

Von 1955-1961 leitete mein Vater die Volkstanzgruppe des Ensembles vom Industriebau Berlin. Mit dieser Gruppe nahm er auch an Leistungsschauen und Kreisausscheidungen teil. Die Auftritte fanden immer mit dem gesamten Ensemble statt, also auch mit Chor und Orchester, welches die Tänzer begleitete.

Ab und an mussten die Tanzgruppenleiter bei den Kulturbeauftragten einen beantworteten Fragebogen abgeben. Hier wird deutlich, wie man die Forderung nach neuzeitlichen staatskonformen Themen auch „umschiffen“ konnte. Man schrieb dann einfach „in Arbeit“ und meistens fragte auch niemand nach, wann man mit der Einstudierung fertig wird.

Zum wöchentlichen Übungsprogramm gehörte nicht nur die Einstudierung der Tänze, sondern auch die Vermittlung über die Herkunft der Tänze. Außerdem gehörte eine Erwärmung, Körperschule mit Arm- und Kopfführung, Schritttechnik, Fassungen und Schrittverbindungen zum regelmäßigen Trainingsprogramm.

Die Tanzkleidung der Gruppe war sehr vielseitig. Es gab eine niedersächsische Tracht, weshalb die niedersächsische Suite entstand. Außerdem hatten die Mädchen „wandlungsfähige Kleider“.
Es wurden weiße Blusen getragen und dazu ein schwarzes Miederkleid, auf das man Miederteile und verschiedene Bordüren aufknöpfen konnte. Dazu trug man dann entsprechend Tuch und Schürze. Im Fundus befanden sich auch noch hessische und bayrische Kopfbedeckungen, so konnte man sich zu jedem Tanz passend kleiden. Finanziert haben die Kleidungen und Requisiten immer die Betriebe.

Niedersächsische Suite, Teil aus Windmüller 1957 in niedersächsischer Tracht

Niedersächsische Suite, Teil aus Windmüller 1957 in niedersächsischer Tracht

Die Gruppe belegte bei den Wettkämpfen immer vordere Plätze Mit der Niedersächsischen Suite gewann die Gruppe, gemeinsam mit der Gruppe von Willy Hinzert, die sich eher dem politischen Folkloreballett widmete, den 1. Platz im Kreisausscheid. Sehr zur Überraschung aller. Dennoch konnte man an diesem Beispiel sehen, dass beide Auffassungen von Volkstanz, durchaus eine reelle Chance hatten.

Im Januar 1954 wurde das Ministerium für Kultur gegründet, dem das Zentralhaus für Laienkunst nun unmittelbar unterstellt war.
Das Zentralhaus feierte sein zweijähriges Bestehen mit einer Konferenz, die auch eine Fachtagung beinhaltete.
Zusammenfassend zog die Fachabteilung Tanz folgendes Fazit:
„Die Hauptaufgabe der Volkskunstgruppen ist die Erziehung der Werktätigen. Sie richtet sich nach zwei Seiten, nach innen an die Mitglieder der Gruppen, nach außen an die Zuschauer. Die Mitglieder der Volkstanzgruppen sollen zu aufrechten und aktiven Patrioten erzogen werden, die mit Bewusstsein in der Gruppe wie an ihrer Arbeitsstelle fleißig, zuverlässig, schöpferisch, vorbildlich ihre Aufgabe erfüllen. Das ist die erste Aufgabe. Sie ist erstrangig. Die zweite Aufgabe ist durch eine künstlerische Leistung eine starke Wirkung auf die Zuschauer auszuüben. Die Darbietungen müssen also durch die gute künstlerische Gestaltung mobilisierenden Charakter haben…
Man kann von drei oder vier Schritten in der künstlerischen Arbeit der Volkstanzgruppen sprechen.
Der Erste: die Aneignung des überlieferten Volkstanzes und seine lebendige Gestaltung.
Der Zweite: die künstlerische Bearbeitung des Volkstanzes für die Bühne.
Der Dritte: die Weiterentwicklung des überlieferten Volkstanzes, die Gestaltung von Suiten und Szenarien.
Der Vierte: die Gestaltung neuer Tänze auf der Grundlage der Elemente des Volkstanzes.
Quelle: Erich Janietz in „Mitteilungen des Zentralhauses für Laienkunst“ März 1954.

Im Jahre 1952 gründete sich im Kulturring der Berliner Jugend beim Senator für Jugend und Sport in West-Berlin die „Arbeitsgemeinschaft Berliner Tanzkreise“. Hier setzten die Tanzleiter ihre 1949 begonnene Arbeit fort. Der 1. Vorsitzende war Walter Huhn, der 2. Vorsitzende Horst Schernus. Weitere Mitglieder und später auch Vorsitzende waren unter anderem Arthur Bolle, Hans-Joachim André und Volkhard Jähnert. Zu dieser Zeit gab es in West-Berlin 32 Volkstanzgruppen mit ca. 1.500 Tänzern.

Als Reaktion darauf gründete sich Ende 1954 oder Anfang 1955 in Ost-Berlin die „Arbeitsgemeinschaft für Volkstanz im Zentralhaus für Laienkunst“ dessen 1. Vorsitzender Willy Hinzert wurde. Diese Arbeitsgemeinschaft arbeitete im Rahmen der neu gegründeten Volkskunstkabinette.
Diese Volkskunstkabinette entstanden in allen Bezirken der DDR und sollten eine einheitliche Arbeit in der gesamten Volkskunst ermöglichen.
Sie wurden in verschiedene Arbeitsgemeinschaften unterteilt, zum Beispiel AG Berliner Chöre, Berliner AG Bildnerisches Volksschaffen und die Arbeitsgemeinschaft Berliner Volkstanzgruppen.
Die Arbeitsgemeinschaft Berliner Volkstanzgruppen organisierte das 1. Gesamtberliner Volkstanzfest, dass am 15. Mai 1955 in der Deutschen Sporthalle in der Stalinallee in Ost-Berlin stattfand. Die Leitung hatten Eberhard Jähnert und Erich Krause und musikalisch wurde das Fest von dem Berliner Volkstanzorchester Willy Kremke gestaltet.
Dieses Tanzfest wurde ein voller Erfolg.

Hier eine kleine Auswahl von Tanzgruppen in Ost-Berlin, von denen ich durch Gespräche weiß, dass es sie gab. Teilweise konnten mir auch noch die Namen von den Leitern genannt werden:

  • Deutsche Notenbank, Berliner Glühlampenwerk, Kalk- und Zementwerke Rüdersdorf: Horst Feurich
  • Kodak Filmfabrik Köpenick: Marthel Henschke
  • DIA Elektrotechnik: Willy Hinzert (Bühnentanz)
  • Hermann-Duncker-Ensemble des FDGB: Willy Hinzert
  • Ernst-Hermann-Meyer-Ensemble: Brigitte Micke, später Willy Hinzert
  • VEB Elektrokohle
  • Ministerium der Finanzen
  • Hochschule für Planökonomie (HOPLA)
  • Haus der Kinder, später Theater der Freundschaft hatte Kindertanzgruppe und Chor
  • die Tanzgruppe der Volksbühne von Atze Kummer wurde an den „Bauernverlag“ und die „Nileswerke“ angeschlossen
  • Interflug: Waltraut Stark
  • Tanzgruppe der Charité: Erich Krause
  • Groß-Berliner Volkstanzkreis: Erich Krause
  • Tanzgruppe der BVG: Eberhard Jähnert

Dann gab es noch die staatlichen Tanz-ensembles, die aus Berufstänzern und -musikern bestanden, so zum Beispiel Erich Weinert Ensemble, Staatliches Volkskunstensemble, Staatliches Dorfensemble.

Im Frühjahr 2010 traf ich mich mit Roger Reinsch. Er tanzte früher im Ernst-Hermann-Meyer-Ensemble der Humboldt Universität. Er verwaltet mit noch einer früheren Tänzerin die Chronik des Ensembles und organisiert regelmäßig einmal im Jahr ein Ensembletreffen. Am 24. April 2010 durfte ich an dem Treffen teilnehmen und hatte somit die Gelegenheit mich mit alten Ensemblemitgliedern zu unterhalten. Das Ensemble wurde 1951 gegründet. Die Tanzgruppe wurde anfangs von Brigitte Micke geleitet. Getanzt wurden Tänze wie Kreuzpolka, Tampet, Bauernhochtied und andere überlieferte Tänze.

Später übernahm Willy Hinzert die Gruppe. Es gab eine Wende in der Arbeit und im Repertoire der Gruppe.
Einige Tänzer verließen die Gruppe. Die traditionellen Volkstänze traten in den Hintergrund. Willy Hinzert choreographierte selbst viele Folkloreballette zu Themen aus der sozialistischen Arbeitswelt und zu weltpolitischen Themen. Ballette vom Choreographen Jean Weidt wurden ebenfalls einstudiert. Außerdem wurden aber auch deutsche und internationale Tänze getanzt.
Geprobt wurde immer Dienstag und Freitag. Das Training bestand aus 1 Stunde klassisches Ballett und 1 Stunde Schrittfolgentraining. Als Trainerin arbeitete Brigitte Ret mit den Tänzern. Jan Spitzer war der Pianist bei den Proben. Die Gruppe nahm an nationalen Ausscheiden und bei Arbeiterfestspielen teil.

Außerdem trat man auch im Ausland auf. Die Gruppe arbeitete bis 1990. Die Mitglieder wechselten öfter, da die meisten Studenten nach Beendigung des Studiums die Stadt verließen.
Von den im April befragten ehemaligen Tänzern tanzt heute niemand mehr. Es war für alle eine schöne Zeit.

Aber alle sagten, dass das Training sehr anstrengend war, zumal die meisten später einem Beruf nachgingen und Familie hatten. Mit Volkstanz hatte das Ganze nichts mehr zu tun, eher mit klassischem Balletttraining.


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